E PERICOLOSO SPORGERSI

© by ralf moß



"E Pericoloso Sporgersi", sie hatten das Schild früher an jedem Platz. Heute nicht mehr. Die Fenster sind nicht mehr zu öffnen. Löcher, abgedeckt mit einer bruchsicheren Scheibe. Meinen Mantel berge ich zusammengerollt auf meinem Schoß. Er hat sonst keinen Platz. Sie haben auch die Haken entfernt. Der Schaffner sieht mit sturem Blick die Reihen  entlang, bis zum Ende des Abteils und wieder zurück. Von seinem Hochsitz hat er einen guten Überblick. Nichts entgeht ihm. Wie der Lichtkegel eines Leuchtturms streicht sein Blick über unsere Köpfe. Ich möchte mich ducken, wenn er  mich erreicht.

Jemand will zur Toilette, der Schaffner nickt und klopft mit seinem Stock an die Tür. Der Schaffner im nächsten Abteil klopft zurück, zweimal. Unser Schaffner nickt wieder, der Weg zur Toilette ist  freigegeben. Zwischen den beiden Schaffnern darf das Geschäft erledigt werden. Die Vorrichtung ist sicher, beide Schaffner sehen weg. Es kann nichts passieren.

Früher hätte ich jetzt Zeitung gelesen. Früher hätte  ich genügend Platz gehabt, eine Zeitung aufzufalten. Früher hatte es Zeitungen gegeben, die ich hätte lesen wollen. Die Züge sind voll, seit sie den Individualverkehr aufgehoben haben. Zu gefährlich. Aufgehoben, was für ein Wort.  Auch Züge sind gefährlich, doch es gibt ja die Schaffner auf ihren Hochsitzen. Und die Scheiben. Niemand kann herausspringen. Auch die Gleise sind abgesperrt, man kann sie nicht betreten. Betreten! Man betritt Gleise nicht. Man  legt sich darauf oder wirft sich auf sie, kurz bevor ein Zug kommt. Es ist alles abgesperrt, Gleise, Brücken, Flüsse, das Meer.

Wenn ich zuhause angekommen bin, werde ich mir ein heißes Schaumbad einlassen, eine  Stunde baden, den Fön einschalten und zu mir ins Wasser holen.

Sie werden den Strom aufheben. Oder das Wasser. Wahrscheinlich beides.

08.12.94

Zurück zum Text von ’Cut Off’